Über Juli Zeh’s Roman „Über Menschen“
Dora muss raus! Nichts ist mehr stimmig. Zu viele Informationen, zu viel Widersprüchliches, die Mitmenschen werden immer befremdlicher in der ansonsten „splendid isolation“ der Stadt, selbst der Mann an ihrer Seite entfernt sich gefühlt immer mehr. Dann bricht auch noch die Corona-Pandemie aus, die daraus resultierende Arbeit im home office erzeugt immer unrträglichere Enge, die zu weiterer Distanzierung führt. Hals über Kopf kauft sie ein altes Haus auf dem Land in Brandenburg um dem allen zu entfliehen und um zu versuchen, wieder zu sich selbst und zu innerer Ruhe und Stabilität zu finden. Zunächst muss sie sich an die neue Umgebung gewöhnen, kämpft mit dem verwilderten Garten; ohne eigenes Verkehrsmittel findet sie sich auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen, erleidet seine Unzulänglichkeiten und Unbequemlichkeiten. Erfreulicherlicherweise findet sie in der ihr neuen Situation Hilfe von den anderen Dorfbewohnern: auf dem Dorf ist man aufeinander angewiesen und jeder hilft jedem, und so findet sie die Wärme, Menschlichkeit, Empathie, die Städter immer mehr vermissen, ausgerechnet im Nazi-verseuchten Dorf. Zu ihrer großen Überraschung aber auch Verwirrung findet sie in ihrem Nachbarn, dem Dorfnazi, wie er sich vorstellt, trotz seiner im Grunde gewaltbereiten Einstellung einen der nettesten und hilfsbereitesten Menschen dem sie je begegnet ist….
Über Menschen – Übermenschen
Juli Zeh lässt Dora über Menschen berichten, die sich gerne als Übermenschen gerieren. Es friert einen, wenn einer dieser „Übermenschen“ erzählt, mit welcher Normalität man nach Lichtenhagen gefahren sei, sich am Feuer erfreut habe und den Beifall der Umstehenden genossen habe. Leider gibt sie diesen gewaltbereiten rassistischen engstirnigen Nazis auch freundliche und hilfsbereite Seiten, was zu einer gewissen Verharmlosung dieser Gruppe führt, die in der realen Welt ja auch vor Mord nicht zurückschreckt. Dora stellt aber auch klar, dass sie selbst, weil Nicht-Nazi, etwas besseres ist.
Zunächst sieht es so aus, als würde Juli Zeh lauter Kurzgeschichten über Dora, eine junge Werbedesignerin, die mit sich und der Welt, die für sie voller beängstigende Widersprüche ist, nicht klar kommt, aneinanderreihen. Entsprechend kurz sind die meisten Kapitel dieses Romans und sie folgen einem Muster: Die Kapitel beginnen meist mit einfachen Sätzen über Alltägliches, steigen dann aber hinab in die Tiefen von Doras Wahrnehmung und Gefühlsleben und Doras Versuche, das Erlebte zu verarbeiten.
Wenn man Informationen auf Schubladen verteilt, Wahrnehmungen in Kategorien sortiert, scheint die Welt überschaubar. Werden die Informationen zu viele, die Wahrnehmungen zu unterschiedlich, kommt man mit dem Verteilen und mit dem Sortieren nicht mehr nach, die Verwirrung wächst, die Orientierung schwindet. So in etwa fühlt sich Deutschland derzeit, Juli Zeh versucht, diesen Zustand an Hand ihrer Protagonistin Dora zu vermitteln. Recht schnell erkennt man, dass eine Schublade, eine Kategorie nicht ausreicht. Was nun?
Der in „Unterleuten“ bereits gesichtete Kampfläufer rennt auch in „Über Menschen“ wieder durch die Natur, vermittelt somit eine gewisse Nähe zu derselben und macht auf den zerstörerischen EInfluß des Menschen aufmerksam, Stichwort „Klimawandel“. Warum allerdings der weniger gefährdete und alltäglichere Star ein „proletarisches“ Federkleid tragen muss, bleibt unklar.
Ein weiteres Tier wird als Metapher eingesetzt: der Wolf symbolisiert meist alle Ängste der Menschen vor dem Unbekannten, Wilden, Starken, Gefährlichen, darf also auch in einem Buch, das sich mit dem Umgang mit Nazis in der Dorfgemeinschaft beschäftigt, nicht fehlen. Es gibt immer einen, der immer dabei ist, aber eigentlich nicht dazugehört und auch nicht dazugehören will. Leider bricht dann der Charakter des Protagonisten und sein Schicksal mit diesem Bild.
Manches vom Film entlehnte Atmosphäre-Stilmittel wird eingesetzt, wenn z.B. der Regen die traurigsten Momente durchnässt, und wirkt dann klischeehaft und unpassend.
In dieser 2. Fassung des Romans spielt der Beginn der Corona-Pandemie eine entscheidende Rolle, unterstreicht dadurch die Aktualität der Botschaft des Romans, auch wenn der Zusammenhang zum eigentlichen Thema fehlt. Für eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Pandemie auf die Gesellschaft und die Menschen ist es zu früh und so bleibt dieser Aspekt im Gegensatz zu den anderen Themen inkohärent oberflächlich.
So kommen letztendlich zwei Themenkreise zustande. Die Schwierigkeiten beim Leben im ländlichen Raum, hervorgerufen durch die an Ballungszentren orientierte Wirtschaft (Infrastruktur Versorgung Lebensmittel Waren Medizin), wie sie überall in Deutschland zu beobachten sind, ergänzt durch den Raubbau an der ehemaligen DDR nach der „Vereinigung“. Der Schwerpunkt schlechthin ist die Auseinandersetzung mit dem Dilemma, in der Dorfgemeinschaft auf Menschen angewiesen zu sein, mit denen man nichts zu tun haben möchte, weil sie völlig ohne Unrechtsbewusstsein ihr gewaltbereites rassistisches Nationalistenleben leben.
Es könnten durchaus autobiographische Züge sein, wenn Dora von ihren Werten und ihrer Einstellung zur Religion erzählt, oder Antworten auf ihre Ängste auf Ausflügen in die Heidegger’sche Philosophie sucht. Sehr schön, wie sie von dort auch den Bogen zur heute allgegenwärtigen „Achtsamkeit“ schlägt.
Juli Zeh zeigt in ihrem neuen Roman auf unterhaltsame, bisweilen auch witzige Art und Weise die derzeitige Befindlichkeit der deutschen Gesellschaft. Dabei wertet sie nicht und unternimmt weder Erklärungsversuche noch Ursachenforschung, er wird weder Lehrstück noch philosophischer Leitfaden für den Umgang mit den Problemen unserer Zeit. Sie erklärt nicht, was richtig ist, stellt aber immer wieder dir richtigen Fragen.
Sie malt ein umfassendes Bild der heutigen Gesellschaft, der Rezeption und der Reaktion der Menschen auf eine immer schneller immer komplexer werdende Welt, in der der Einzelne machtlos Probleme aushalten muss, die nur gesellschaftlich zu lösen sind.
Der Roman ist sehr schön geschrieben und liest sich leicht und flott. Schnell will man das Buch nicht mehr aus der Hand legen, genießt den Humor und Wortwitz, will wissen, wie es weitergeht, wie sich Dora weiter entwickelt und wie Juli Zeh die Geschichte schließlich auflöst, und bleibt am Ende angekommen durchaus nachdenklich zurück.